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Heftige Zeiten als Chance: Ein Lob der digitalen Verbindung & Formatentwicklung.

9 min readMar 13, 2020

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Pic credits: GIZ Seneca Green, Imrana (CC BY-SA 2.0)

Allem vorweg: Danke liebe Miriam Janke für die Anregung zu diesen Gedanken 🙏. Vielleicht kann 2020 eines der kreativsten Jahre im Sinne von interaktiven Veranstaltungsformaten werden ☄️💥. Nicht zu vergessen die vielen tollen & solidarischen Initiativen 💪, wie #Nachbarschaftschallenge von @jonathanfritz, oder dem Aufruf #1Team dank @leanderwattig , also sich gegenseitig zu unterstützen und zu empfehlen. Vielleicht kann 2020 auch ein Meilenstein unserer gegenseitigen Unterstützung werden 🙌. Let’s go: Hier ist der erste Versuch meine Erfahrungen & Expertise zum Aktuellen beizutragen und wenn Ihr mögt: Let’s share & discuss — und ja: support 🤗.

tl;dr:
Die aktuellen Herausforderung rund um Corona bieten die Möglichkeit sich in digitalen Formaten & Verbindungen auszuprobieren. Dabei ist die Technik, als Infrastruktur genauso wichtig, wie ein Verständnis der digitalen Kultur. Kultur & Technik sind zwei Seiten der Medaille Digitalisierung. Digitale Kultur ist dabei maßgeblich geprägt von Gemeinschaft, übersetzt: Community. Aufbauen, pflegen und erhalten von Communities ist Beziehungsmanagement. Community Management als ausschließlich als Teil des Marketings zu verstehen greift zu kurz, denn Beziehungen werden nicht “gelauncht”, sondern von einzelnen oder wenigen initiiert und werden über einen Zeitraum im besten Fall zur Gemeinschaft.

Eine Situation, die so noch nie da war 😳

Die Absage der Leipziger Buchmesse, ist gerade nur etwas mehr als eine Woche her. Im Nachhinein eine Art Auftakt dem täglich und weltweit mehr folgen: von Größen wie der Mutter aller Tech- & Kreativfestivals, der SXSW in Austin, der Verschiebung der re:publica über der Schließung aller staatlichen Kulturinstitutionen in Berlin bis hin zu den vielen kleinen, feinen Formaten von Chorauftritt bis Volleyball-Gruppe. Zu Recht, denn #FlattenTheCurve, also die Verlangsamung der Ausbreitung der Corona Pandemie ist aktuell das oberste Ziel (Was tun? Als Nicht-Expertin & da es sich ja auch konstant anpasst, hier eine Empfehlung zu Virologen wie Christian Drosten). Unabhängig der Gesundheit ist der Impact des Coronavirus heftig bis hin zu existenzbedrohend. Gibt es auch Chancen? Wenige. Aber einen Versuch ist es unbedingt wert.

Das Potenzial dieser Situation

Genau Vorträge, Lesungen aber auch Workshops, Treffen, Austausch, bis hin zu so kreativen Ideen wie einer Twitter Band können — so gut gemacht — digital so lebendig & interaktiv sein wie analog. Das haben wir vor rund einem Jahr zur GIZ SENECA Green gemacht, um weniger Flugemissionen zu produzieren & KollegInnen ohne Visa-Zugang die Teilnahme zu ermöglichen. Aufgebaut haben wir bspw. einen stabilen Livestream mit einer ausgewählten Vielzahl von Interaktionsschnittstellen + starken Moderationen, die Fragen & Themen der digitalen Teilnehmenden an die Sprechenden tragen konnten und vice versa. Meilensteine und Themen wurden dann u.a. ins Intranet übertragen, um Gespräche nachhaltig (also auch nach der Veranstaltung) weiterführen zu können. Ein Mondbesuch in VR war ebenfalls mit dabei.
Nur eine Handvoll der tollen Beispiele, die mir in den letzten Tagen begegnet sind:

● Letzten Donnerstag, am Tag gegen #Internetzensur, eröffnete Reporter ohne Grenzen ihre #UncensoredLibrary, ein digitale Bibliothek in Minecraft. Alle Bibliotheken Berlins sind geschlossen, aber so ist mein Weg zur Bib nächste Woche gesichert 🤗

● Die großartige Jasmin Schreiber hält ihre Lesungen nun auf ihrem Twitch Kanal. Rechner an & genießen: Die nächste findet am So, den 15.3. um 20h statt. Und das Tollste ist, es gibt auch eine digitale Kaffeekasse. Denn auch beim Lob des Digitalen, wir sollten dringend die Idee verwerfen, alle Inhalte im Internet kostenfrei erhalten zu wollen. Investiert in das, was ihr nutzt & toll findet. Genau jetzt halte ich es für wichtig, all die auch mit Geld zu unterstützen, die natürlich finanzielle Einbussen von der Absagewelle verkraften müssen.

● Unter #sbm20 findet gerade eine “Social Buchmesse” statt, initiiert von Sascha Lobo teilen Menschen ihre Buchempfehlung, spezifisch von den Büchern, die sonst vrmtl. nicht im Mainstream auffindbar wären.

● ARD & MDR experimentieren mit der Virtuellen Buchmesse und werden am eigentlichen Buchmesse Samstag (14.03) Lesungen live-streamen.

Livestreams sind großartig! Keine Frage. Sie sind bspw. seit jeher regulärer Teil von so vielen re:publica Bühnen, wie das Budget es zugelassen hat, damit konnten SpeakerInnen & Themen nicht nur nachhaltig eine Bühne geboten, sondern auch barrierenärmer gemacht werden. Wer mag: Einige Bausteine aus meiner Zeit als Head-Of re:publica habe ich damals hier im Interview mit dem eveosblog erzählt.
Nur nicht vergessen: Livestreams sind als solches ein einseitiger Kommunikationskanals. Das Digitale lebt aber von einem Rückkanal. Denn einseitig bedeutet auch, dass keine Interaktion stattfinden kann, die für Treffen *In Real Life* essentiell sind.

Bleibt es also bei einem rein technischen Verständnis von “Digitalisierung”, was aus meiner Erfahrung oft der Fall ist, kann sich das Potenzial des Digitalen auch nur bedingt entfalten, denn: Neben einer technischen Infrastruktur braucht es ein Verständnis von Digitalkultur. Und damit hier mein Betrachtungsvorschlag: Eine Medaille, zwei Seiten.

Die eine Seite der Digitalisierungs-Medaille: Tool- & Technik-🖤

Apropos tolle Initiativen, hier ist schon die Nächste: Dank 🙏@SimonDueckert & Community gibt es eine Übersicht an Tools auf ihrem Wiki, aufgeteilt in Software & Hardware plus ihre Erfahrungen dazu. Es gibt sicherlich noch einiges zu ergänzen (s. ihr Aufruf im Wiki mitzumachen), insofern hier keine weiteren technischen Tipps, sondern zwei Erfahrungen:
● Technisch geht grundsätzlich Vieles: Von fancy & aufwendig bis hin zu low budget & selbstgemacht — je nachdem was mensch braucht
● Wenn fancy (manch eine mag schmunzeln, ist tatsächlich aber etwas, was immer wieder verwechselt wird): Ein guter Livestream braucht nicht nur ein Team aus TechnikerInnen (Kamera, Bildmischung, etc.), sondern mindestens auch eine stabile Internetverbindung. Es handelt sich also um eine Mehrzahl an Menschen, die ganz unterschiedliche Qualitäten mit sich bringen und nicht über einen Kamm geschoren werden können. Eine Elektrikerin ist kein Dachdecker. Punkt. Ein NOC-Team ist keine Kamera-Person und vice versa, kurz: Ja, das kann aufwendig(er) werden. Und das zu recht, weil dort viele Menschen ihr Fachwissen einbringen.
● Wenn low(er) budget, dann gehen Streams bspw. integriert über existierende Plattformen, wie das TINCON heute als digitale Buchmesse Diskussion gemacht hat, oder auch die wichtige Initiative von Erik Marquardt et al zur Situation in Lesbos und der Türkisch-Griechischen Grenze: ein Webinar mit +700 Teilnehmenden {zur Aufzeichnung hier entlang}.

Ausprobieren. Jetzt erst recht. 💪
Was ist also die “richtige” Auswahl von Tools & Technik? Es kommt drauf an. Wie so oft gibt es auch hier jeweils Vor- & Nachteile. Aber die Frage nach DEM RICHITIGEN ist auch gar nicht die Spannendste. Ich rate — einmal mehr — dazu, von der Suche nach dem Richtigen Abstand zu nehmen, um? Um sich dem Ausprobieren hinzugeben. Beta, RORE, Iterationsschlafuen, sie alle haben gemeinsam genau dieses Ausprobieren zu zelebrieren. Als lernende Organisation, wie Individuen. Zu Recht! Genau für Organisationen, die sich mit diesem Kulturwandel schwertun ist der aktuelle Ausnahmezustand eine große Chance.

Stichwort Kulturwandel:

Und die andere, oftmals Unterschätzte: Die Kultur des Digitalem

Als Faustregel kann gelten: Wenn Du digital Menschen zu etwas einlädst, tue das, wie Du es auch analog machen würdest: Heiße willkommen. Schaffe einen Raum, in dem sich Deine Gäste — egal wie viele es sind — wohlfühlen können. Das ist toll. In dem sie sich mit Dir und ggf. auch untereinander austauschen können. Ein Mehrwert, warum sie teilnehmen, sollte auch ihnen klar sein und dann führe sie durch Deine Einladung. Sie schenken Dir ihre Zeit. Wenn Du selbst keine GastgeberInnen Rolle einnehmen magst oder kannst, lass Dich von KommunikatorInnen unterstützen. Vergiss nicht, sie am Ende gebührend zu verabschieden — vll. ja mit einer Einladung zum nächsten Wiedersehen.

Als Internet-Enthusiastin ist mein Arbeiten geprägt von der Frage, wie IKT genutzt werden kann, um Gemeinschaft zu ermöglichen und dieser zu dienen. Technik ist eine Basis, die Infrastruktur. Kultur das, was wir daraus machen. Ein “selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe” wie Clifford Geertz es beschreibt. Seine Definition von Kultur steht für analog wie digital. Und sie ist so treffend, dass er es schafft in nur zwei Wörtern zwei grundlegende Aspekte deutlich zu machen:

Selbstgesponnen? Kultur wird gestaltet. Und zwar von denjenigen, die Teil von ihr sind. Sie prägen, gestalten, ermöglichen oder verhindern. Ein großartiges Beispiel der Ermöglichung ist das fast 1 Mio. Mitglieder starke Subreddit change my view. Der damalige 17 jährige Kal Turnbull vermisste eine ausgewogene Debattenkultur — und hat diese kurzerhand selbst geschaffen (mehr via Wired, EN). Ein anderes Beispiel konnte ich am Montag miterleben, als in Berlin die #GoldenenBlogger Awards verliehen wurden. Vor Ort wie im Vorfeld, analog wie digital, haben die Initiatoren Thomas Knüwer, Franziska Bluhm und Daniel Fiene einen Raum geschaffen, der nicht zuletzt eine Vielzahl von Interaktionsmöglichkeiten anbietet und dadurch atmet und lebt.

Bedeutungsgewebe? Technik, Dinge, Kontexte, Beziehungen, alles erhält ihre Bedeutung durch Zuschreibung, also eben der Bedeutung, die wir ihnen verleihen. Und die sind vielfältig, wie die einzelnen Fäden die erst zusammen einen Stoff ergeben. Ein Beispiel ist Jan Böhmermanns Umkehrung der Strukturen des rechten Netzwerks “Reconquista Germanica” in die Liebe-Verbreitende Bewegung “Reconquista Internet“.

Kultur als Gewebe mit vielen Fäden. Pic credits: Anne-Caroline Alard (CC BY-NC-ND 2.0)

In allem, was (digital) stattfindet gibt es also (natürlich) auch eine Kultur, die die jeweilige Gemeinschaft oftmals unterbewusst prägt. Erwacht diese zum Leben, werden Chancen wie Open Innovation Prozesse, Feedbackkultur, Wissentransfer & Sharing, etc. überhaupt möglich. Das jedoch wird nicht gelauncht. Das wächst.
Eine Gemeinschaft aufzubauen, zu gestalten und — so gewollt — zu erhalten ist eine hohe Kunst. Community ArchitektInnen, Builder und ManagerInnen sind dabei die KünstlerInnen, deren Bedeutung meiner Meinung nach nicht überschätzt werden kann. Sie leisten im direkten Austausch mit Community und Stakeholdern nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Unternehmenskommunikation: Sie sind am Puls der Gemeinschaft. Ihr Ton, Auftreten, Verhalten gestaltet die sich entwickelnde Kultur. Nur eine Handvoll Beispiele, die mich in dieser Hinsicht immer wieder begeistern und inspirieren sind neben einmal mehr Miriam Janke 🤟, Tom Ritschel, Tanja Laub, Leander Wattig, Maria Reimer, Nora Hespers, Elke Brüsch, das Team rund um den phänomenalen Soziopod, uvw.

So unterschiedlich die Kontexte & Hintergründe all dieser ☝️👆☝️👆 tollen Menschen sind, Ihnen allen ist gemein, dass sie in ihrem Wirken Beziehungen aufbauen und pflegen. Analog wie digital. Respektvoll, wertschätzend, auf Augenhöhe. Kurz: Eine (digitale) Kultur prägen die Menschen, die sie gestalten.

Community Building ≠ nur Marketing
Community Building = Beziehungsmanagement

Neben langjährigen Community-Profis wie Tanja & Leander (s. 👆) , bietet auch Amy Jo Kim, die ihre Wurzeln u.a. in der Gamesbranche hat, gute Orientierungspunkte. Eine Branche, aus der in Sachen Gemeinschaft von A bis Z einbinden viel gelernt werden kann. Jo Kim beschreibt bspw. wie Rituale geschaffen werden können, welche Rolle Mitglieder einer Gemeinschaft peu à peu einnehmen können, und welche Bedürfnisse eine Community erfüllen kann und welche auch nicht.

Eigene Darstellung nach Amy Jo Kim’s Buch “Community Building”

Neben ganz unterschiedlichen Kulturen gibt es auch eine quasi “Meta-Kultur” des Digitalen:

Was das seien soll? Last but not least: Ein Mini-Einblick mit großer Leseempfehlung: Der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder hat in seinem Buch „Die Kultur der Digitalität“ (2016) einen Betrachtungsrahmen vorgeschlagen: „Es sind allgemein verbreitete, spezifische Formen der Kultur, des Austauschs und Ausdrucks über viele inhaltliche, soziale und lokale Differenzen hinweg, die es überhaupt ermöglichen, von der Kultur der Digitalität im Singular zu sprechen“ (Stalder, 2016, S. 17). Weiter beschreibt er drei spezifischen Charakteristika der digitalen Kultur: 1) Referentialität — also bestehendes Material für sich selbst zu nutzen, 2) Gemeinschaftlichkeit und 3) Algorithmizität.

Digitale Kultur meint also maßgeblich: Gemeinschaft.

Der digitale Vordenker Yuval Noah Harrari (2019) geht gar soweit im Aufbau einer globalen Gemeinschaft eine Notwendigkeit zu sehen .Dies unterstreicht auch der Soziologe Ronald Hitzler, und geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass heutige Gemeinschaft „[…] — in all ihren Erscheinungsformen — eine ‚Antwort’ auf eine allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung” sei (Hitzler et al, 2008, S.18).

2020 wird auf jeden Fall ein herausforderndes Jahr. Vielleicht aber auch eines mit der Möglichkeit für VeranstalterInnen, Organisationen und vielleicht sogar für uns als globale Gemeinschaft neue Wege zu gehen und uns gegenseitig zu unterstützen. Analog, aber mit dem aktuell nötigen pandemischen Abstand eben auch digital. 🙌

Sie und Ihr habt weitere Ideen, Beispiele, Erfahrungen, Anregungen, Kritik oder Feedback? Herzlich gerne! Hier in den Kommentaren, via Twitter @diewahremona oder über einen anderen Kanal unter www.simoneorgel.com

Literatur:

Geertz, C. (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Stuttgart: Suhrkamp.

Harari, Y. N. (2019). 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck.

Hitzler, R., Honer, A., Pfadenhauer, M. (2008). Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiebaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Stalder, F (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp Verlag.

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Simone Orgel
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Written by Simone Orgel

Hi! My greatest pleasure to emeet. I am an experienced consultant and strategist with a history of working in the field of ICT, culture and events.

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