Aalglatt! Eine Betrachtung weg vom Scheitel, hin zur Sohle.

Simone Orgel
9 min readApr 26, 2020
Der histologische Schrägschnitt der menschlichen Kopfhaut zeigt in unterschiedlicher Höhe angeschnittene Haarfollikel (Hämatoxylin-Eosin-Färbung). pic credit: Rollroboter CC BY-SA 3.0

Lang. Dunkel. Dicht. Dick. Meine. Aber mir nicht gut gesonnen. Ich ihnen auch nicht. Im Gegenteil, der gesamte Bereich zwischen Kniescheibe und Knöchel grient mir kampflustig entgegen. Ich entgegne diesem Frevel mit Verachtung. Die Struktur derer da unten ist konfus, sie scheinen sich nicht wirklich auf eine Richtung einigen zu können, sondern — ganz modern — sich dazu committed zu haben, ihr eigenes, individuelles Ding durchzuziehen. Die rund 78.000 starke Mannschaft der Haarfollikel (nimmt man neben Beinen auch Achselhaar hinzu) scheint aber an der ein oder anderen Stelle in seiner Struktur angstverzerrt und schweißbedeckt. Berechtigt, es geht ihnen an die Existenz. Ihr Verhalten ist ansteckend. Ätzend.

Dieses Gefühl kann uns auch die freundliche Brasilianerin mit dem grandiosen Hüftschwung nicht nehmen, die wohl unser Nicht-wohl- Sein bereits bemerkt hat und uns den Weg zum Ausgang mit einem Lächeln, das keine Fragen offen lässt, versperrt. Ich bemerke einen Rückzug der gesamten Mannschaft in Richtung Haarwurzel, nur einige Rebellen wappnen sich zur Verteidigung, versuchen quasi unter die Haut zu schlüpfen. Mit einem Plas- tikbecher voll Wasser — gekühlt und ohne Kohlensäure — versucht sie uns bei Laune zu halten. Wir wiederum versuchen auf dem pastellfarbenen Korbstuhl, in dem pfirsichfarbenen Wartezimmer, mit vermeintlich ent- spannender, brasilianischer Strandmusik, Ruhe zu bewahren und uns krampfhaft an das Versprechen der Eingangstür zu erinnern: “Rio Waxing — feel Brazil. Mit Rio Waxing zieht ein Stück brasilianischer Körperkultur in Berlin ein. Was in Rio schon lange so normal wie der Friseurbesuch ist, nämlich das regelmäßige Entfernen ungeliebter Körperhaare mit Warmwachs (Depilaçao), ist nun auch in Berlin & Hamburg einfach und schnell möglich.”

Mit Rio kann Berlin mithalten: Neben Rio-Waxing sprießen nicht nur in der Hauptstadt sonder landesweit unzählige wax-in-the-citys, Wax Houses, Wax Arts, Wax Sistas und wie sie alle heißen mögen, schier urplötzlich aus dem Erdboden — eine Mannschaft, die nicht in Frieden gekommen ist, sondern sich, unter dem Deckmantel von verlockenden brasilianischen Rythmen, den nachhaltigen Kampf gegen die Körperbehaarung unterhalb des Kinns auf die Fahnen geschrieben hat.

Sie sind mächtig. Spätestens seit sich 2004 auch die gehypten Damen der “Sex and the City”-Staffel auf die Behandlungsliege trauten, um sich untenrum™ wirklich jedes kleine Härchen entfernen zu lassen, wurde das Kosmetikritual aus Übersee auch bei uns zum Trend. Und das mit waxendem Erfolg.

Sie sind nicht allein. Die Waxing-Bewegung marschiert Hand in Hand mit den sogenannten “Sugaring” Verfechtern. Hier wird statt Wachs eine Zitronen-Zucker-Paste verwendet, die mit den Händen aufgetragen und abgezogen wird, und die, well, süße Haarentfernung verspricht.

Es stellt sich mir dabei die Frage, wie süß die 33 Euro nach einer Behandlung wie Rio-Komplett über den Tresen flutschen werden. Für die Unerfahrenen unter uns: Rio-Komplett ist eine Entfernung von allem, wirklich allem was nicht Kopf ist, also auch haarige Schmuckstücke wie die Pofalte. Eben diese scheint sogar einen ganz besonderen Status einzunehmen und rangiert in der Aufzählung einzelner Körperteile mit Sage und Schreibe 14 Erwähnungen ganz oben auf der Rio-Waxing Preisliste. Das sich dort befindende, sogenannte Vellushaar, also das unpigmentierte und leichte Flaumhaar, wird für nur 10 Euro für Frauen und 14 Euro für Männer ratz fatz für rund 4 Wochen ins Nirvana verbannt. Eliminiert. Ausgelöscht. Die 6 - 8 Jahre Lebensdauer, die so ein Vellushaar normalerweise auf Erden verbringt, innerhalb von einem Riss auf null gesetzt. Das Follikel muss wieder von ganz vorne anfangen.

Egal ob Sugaring oder Waxing, diese kulturelle Bereicherung ist das Schlaraffenland des Masochismus, der eine Schmerzerfahrungen so kostengünstig, intensiv und gesellschaftlich anerkannt, wie wohl noch nie verfügbar macht. Der Anfang des 19. Jahrhunderts populäre Schriftsteller und Gelehrte Leopold Ritter von Sacher-Masoch, der wieder seinem Willen dem Masochismus den Namen gab, hätte aus diesem Phänomen bestimmt eine weitere grandiose Novelle gezaubert.

Bei dieser neuen Form der Körpererfahrung herrscht interessanterweise ein nahezu gleichberechtigter Zugang: Nach Angaben von Rio-Waxing wird das Angebot ausgeglichen von Männern und Frauen genutzt, auch das der Pofalte.

Schematischer Querschnitt durch die Haut mit Haarfollikel. Wong, D.J. and Chang, H.Y. Skin tissue engineering (March 31, 2009), StemBook, ed. The Stem Cell (CC BY 3.0)

Was aber unausgeglichen ist, ist die gleichberechtigte Behandlung des Haarorgans selbst: Der gesamte menschliche Körper ist, bis auf wenige Ausnahmen, von Haaren bedeckt.

Die wenigen Ausnahmen bilden nur Schleimhäute, Handflächen, Fingerinnenseiten, Fußsohlen, Brustwarzen und Lippen. Und Haar ist auch nicht gleich Haar. Es sind grundsätzlich und ortsunabhängig mal einfach lange Hornfäden. Wer aber dachte sein ganz persönlicher Pelz sei einfältig und uniform hat den Punkt um Haaresbreite verfehlt. Auf die kommt es nämlich an: Grundsätzlich kann man zwischen dem sogenannten Terminalhaar, also dem erwachsenen, kräftigen, vollständig pigmentierten und ausgebildeten Haar, wie z.B. dem Haupthaar, dem Lanugohaar eines Säugling oder eben dem oben bereits vorgestellten Vellushaar unterscheiden. Da unten™ ist also gar nichts genormt. Sehen ja auch je nachdem, wohin man kuckt, anders aus.

“Die Nächste bitte.” schießt es mir wie ein volle Ladung Eiswasser im Vollschlaf durch meine Gehörgänge und auch das Sichtbare bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: Der heiße Hüftschwung hat mich erreicht und lächelt einmal breiter als zuvor.

Ich bin dran.

Wir verlassen das doch irgendwie lieb gewonnen Pfirsich-Pastellzimmer und folgen dem Hüftschwung durch einen kleinen Gang in einen weiteren Raum. Er ist rund sechs Meter lang, in luftigem Babyblau gestrichen und riecht nach brasilianischem Urlaub, zumindest stelle ich mir den Geruch so vor. Leises Meeresrauschen ist zu hören, was sich irgendwie mit leisem Klappern mischt. Wir sind nicht allein. Der Raum ist durch zwei Trennwände und weiße Vorhänge in drei Kabinen eingeteilt. Mir wird die Erste zuteil und es ist mir so, als ob das Klappern von nebenan seinen Ursprung in schnell aufeinander beißenden Zähnen hat. Das ist hier doch zum Haare raufen. Also das Haupthaar versteht sich, mit dem anderen ist ja jetzt Krieg angesagt.

Woher kommt aber dieser Grabenkampf nach unten und woher dieses Pflegen und Vergöttern der Hornfäden oben?

Warum diese Ignoranz gegenüber all den restlichen Körperbereichen, die nichts anderes im Sinn haben, als uns aufrichtig in Sachen Lichtschutz, Wärme, Feuchtigkeitsschutz- und regulierung zu dienen? Neben der ebenfalls existierenden Imponier- und Drohfunktionen des Haarorgans, also der scheinbaren Vergrößerung eines Säugetiers durch temporäres Aufrichten des Fells, die vielleicht etwas überholt erscheint, rechtfertigen alle anderen Aufgaben ihre Existenz doch eigentlich allemal.

Eine Erklärung erscheint uns besonders schlüssig, während die nette Brasilianerin weiterhin lächelnd, auch wenn es langsam zynisch scheint, den Vorhang mit den Worten “Sie kommt gleich” – grins, grins – zuzieht.

Haare werden für Ihre Dienste nicht mehr wertgeschätzt. Zumindest seitdem wir nicht mehr jagen und sammeln, damit nicht mehr ohne Mauern der Witterung ausgesetzt sind, Braun sein Inn ist, Klimaanlagen angeschaltet und Feuchtigkeitscremes gecremt werden können, kurz: die ursprünglichen Funktionen eben nicht mehr zwangsläufig benötigt werden. Aber wer denkt, Haare hätten heute ihre Funktion verloren hat wiederum haarscharf verfehlt. Haare wurden und sind politisch!

Dem “Haar haben oder nicht haben”, wird in vielen Kulturen eine große Bedeutung beigemessen und das immer verknüpft mit der Frage, wie das Haar denn zu haben oder nicht zu haben sei.

Wo die Bedeutung der Frisur als Massenphänomen begann, ist schwer zu sagen, interessant ist aber, dass sich Haare als Ursprung von Kraft und Macht, was in diesem Fall über Leben und Tod entscheiden wird, bereits im Alten Testament innerhalb der Geschichte Samsons wiederfindet: Die Israeliten werden von den Philistern unterdrückt, und materiell wie auch ideell ausgebeutet. Da kommt der frisch geborene Samson gerade recht. Seine Mission, sein Volk zu befreien, lässt seinen Weg mit der Delila kreuzen, die im Auftrag des Königs den „Retter Israels“ zu Fall bringen soll. Treuselig, wie Samson ist, verrät er ihr das Geheimnis seiner Kraft, die in seinem langen Haupthaar liegt und et voilà: Da wird es ihm abgeschoren, alle Kraft ist dahin und er wird geblendet und unehrenhaft versklavt. Harr verlust sucks — teilweise zumindest.
Ein weiteres interessantes Phänomen ist das Aufkommen einer zunehm- enden Reglementierung des soldatischen Erscheinungsbildes und dem als immer wichtiger empfundenen dekorativen Effekt der Uniformierung gegen Anfang des 18. Jahrhunderts. Damit wurde der anfänglich nur aus Gründen der Haarbändigung geflochtene “Soldatenzopf” in seinen unterschiedlichen Varianten zur militärischen Standardhaartracht.

Doch eine Haarnorm gab es nicht nur bei der Verteidigung nach außen, sondern auch der nach innen: Neben einer vorgeschriebenen Amtskleidung innerhalb der Justiz wurde in Irland erst 2011 Jahr von der seit 1660 bestehenden Tradition der Perrücke abgesehen, an der das Vereinigte Königreich, zumindest bei Anwälten, auch heute noch festhält.

Gemeinfrei: Rapunzel (Illustration vom The Red Fairy Book von Andrew Lang, 1890)

Doch nicht nur bei den oberen Zehntausend wurde der Haarpracht eine große Bedeutung zugeschrieben, auch beim gemeinen Volk war das Haar in aller Munde, wie einige der von den Gebrüdern Grimm gesammelten Hausmärchen zeigen. Das Haar war damals schon ausdrucksstarkes Anzeichen der Inklusion oder Exklusion in die Gesellschaft sowie Ein- und/oder Austrittsbarriere, wie zum Beispiel die wohl älteste, quasi Türsteherin der Geschichte: Rapunzel.

Ohne ihr “langes prächtiges Haar, fein wie gesponnen Gold” wäre der gute Prinz da doch nie hochgekommen. Was Loyalität und Flexibilität betrifft, war der gute Prinz damals aber noch wesentlich toleranter, als zum Beispiel die Jungs der Band “Die Ärtze” heute. Während der Prinz trotz dem “ritsch, ratsch, waren sie [die goldenen Haare] ab- geschnitten” noch vor Sehnsucht nach Rapunzel jahrelang herum irrt, um sie dann — Frisur hin, Frisur her — letztendlich überglücklich findet, braucht bei dem Trio in ihrem 1996 veröffentliche Song “Mein Baby war beim Frisör” das Baby nur einmal die Haare schneiden und schon können die Herren “sie nicht mehr leiden”. Ihnen ist zugute zu heißen, dass sie den Hornfäden, egal wo diese auch wachsen oder eben nicht wachsen mögen, gleich ein ganzes Album “Le Frisur” gewidmet haben. Darin wurden sogar unterschiedliche Perspektiven im Bezug auf das Thema eingenommen, wie zum Beispiel der Song “Am Ende meines Körpers” beschreibt. In Sachen Haare sehe ich ihr Album eindeutig als deutschen Meilenstein, und das teilen nicht viele mit mir: “Le Frisur” zählt zu den verkaufschwächsten Alben der populären Band.

Umschlag der deutschen Programmhefte von Hair 1968–70; pic credits: Musical A.G. Zürich — Privatarchiv Holger Münzer (Hair) CC BY-SA 3.0

Nur 29 Jahre zuvor wurde mit Haaren massentaugliche Geschichte ge- schrieben und nachhaltig, durch die weltweite Verbreitung und Beliebtheit, Geld gescheffelt: das 1967 in den USA erstmals aufgeführt Musical Hair zählt wiederum zu den erfolgreichsten Musicals überhaupt. Auch eine Verfilmung folgt nur rund 10 Jahre später. Auf dem Höhepunkt der sogenannten Hippiebewegung in den USA konnten die Autoren Gerome Ragni und James Rado auf den Zug des “Summer of Love” in den Nachwehen Woodstocks aufspringen und drückten auf der Bühne das aus, was die Protestierenden und Revoltierenden empfanden. Was das mit Haaren zu tun hat? Das Musical erzählt die Geschichte einer Gruppe, gegen das Establishment eingestellter, langhaariger Hippies (daher auch der Name), die in der Stadt New York leben und lieben und sich gegen die Einberufung als Soldaten für den Vietnamkrieg auflehnen.
Im gleichnamigen Song aus dem Musical heißt es:

“She asks me why
I’m just a hairy guy
I’m hairy noon and night Hair that’s a fright
I’m hairy high and low […]”

Haare sind hier also erstens überall und zweitens plötzlich sogar dazu fähig zu verängstigen.

Verständlich, mir machen meine auch gerade Angst, nur dass mir das gerade nicht sonderlich politisch, sondern selbst verschuldet vorkommt.

Ob der Waxing-Trend, also des Eliminieren aller Haare die weder mit Haupthaar, Augenbrauen, noch Wimpern zu tun habe, tatsächlich gänzlich unpolitisch ist, wäre hier noch einmal zu überdenken. Immerhin störte es niemanden, als Sängerin Nena in den 80er Jahren bei ihren Auftritten die Arme zu “Ich werd’ verrückt, wenn’s heut passiert” hochriss und den Fans ihre dunkle Achselbehaarung präsentierte. Was damals normal ist heute Skandal. Beispielsweise provoziert und inszeniert von, wie könnte es auch anders sein, Skandalnudel Lady Gaga, die sich letztes Jahr während der Verlei- hung der MuchMusic Awards nicht nur mit türkisen Haupthaarpracht, sondern auch mit prächtiger, türkiser Achsel- und Schamhaarpracht auftrat.

Ob das sich wiederum, auch im Namen der britischen Bloggerin, Aktivistin und Feministin Laurie Penny, den Anschein selbstbestimmten Handelns gibt, kann ich nur vermuten. Vermutlich hätte sie die These ihres 2012 erschienenen Buches, “Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus”, vertreten, dass das vermeintlich selbstbestimmt Handeln Gagas, in Wirklichkeit körperliche Arbeit am eigenen Marktwert sei. In ihrem Buch rechnet die Krawallschlägerin vorrangig mit der Serie Germany’s Next Top Model ab und versucht deren Auswirkungen zu greifen und in Worte zu fassen.Laut Laurie sind diese enorm und prägen ein Bild von jungen, paralysierten Mädchen, die konstant ihre “Ausstrahlung” evaluieren, ihr Körpergewicht kontrollieren und sich krampfhaft entspannen wollen.

Begehe ich hier, in den drei Quadratmeter des Rio-Waxing Studios, gerade den offiziellen Verrat an meinem Geschlecht?

Trete ich die, die für all unsere Rechte gekämpft, haben etwa gerade mit Füßen? Gehört nicht nur mein Bauch mir, sondern auch die haarigen Kam- eraden da unten zu mir? Neben mir höre ich eine sanfte Frauenstimme, ein kurzes ratsch und ein derart intensives Aufbrüllen, das es mir durch Mark und Bein geht. Das war definitiv ein Männerbrüllen. Und das war vermutlich auch die 14 Euro Pospalte.

Sollte es sich tatsächlich um einen Verrat handeln, dann sitze ich hier mit meiner Weiblichkeit auf jeden Fall mal nicht alleine im Boot, geht es mir durch den Kopf, als der Vorhang aufgezogen wird, mir ein bekanntes Lächeln entgegen strahlt und sich ein atemberaubender Hüftschwung langsam auf mich zu bewegt.

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Simone Orgel

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